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Nr. 62, März 2014 - Leitartikel

Ein unverantwortliches Spiel der Mächtigen (der Welt)

Man hat das Gefühl, in die Zeit des Kalten Krieges zurückzukehren: USA und Russland messen ihre Kräfte, in einem von den Medien aufgeheizten Klima aus Angst, Lügen und Säbelrasseln. Und bislang kann keiner absehen, welche Folgen dieses Tauziehen für die Bevölkerung der Ukraine noch haben wird.
Nur wenige Wochen, nachdem es anhaltende Proteste aus der Bevölkerung geschafft hatten, den korrupten, verhassten Präsidenten Janukowitsch in die Flucht zu treiben, droht der Bevölkerung neues, noch größeres Elend, vielleicht die Teilung des Landes oder gar ein Bürgerkrieg.
 
Jedem ist klar, dass Putin dies völlig egal ist. Ihn interessiert einzig, seinen Einfluss nicht zu verlieren und dafür zu sorgen, dass die Herrschaft der Reichen und die Unterdrückung der Bevölkerung in der Ukraine weitergehen.
Doch sind die USA und die EU besser? Sie führen doch selber genügend Kriege, von Afghanistan bis Mali: Kriege um Einfluss und wirtschaftliche Interessen, in denen ihnen die Folgen für die Bevölkerung völlig gleichgültig sind. Und da sollen wir glauben, dass ihnen Frieden und Freiheit der ukrainischen Bevölkerung am Herzen liegen?

Sie behaupten, durch eine Anbindung an den Westen würde die Ukraine „Demokratie und Wohlstand“ bekommen. Doch das erste, was der Westen für seine Unterstützung verlangt, ist ein gigantisches Sparprogramm: Die Ukraine soll riesige Teile ihres öffentlichen Dienstes und der vielen halbstaatlichen Industriezweige privatisieren oder einfach abschaffen. Das bedeutet hunderttausende Entlassungen, massenhaft Betriebsschließungen und Verarmung. So sieht der „Wohlstand“ aus, den der Westen zu bringen verspricht!
Auch soziale Errungenschaften aus der Zeit der Sowjetunion, die sich die Bevölkerung bei aller Armut bislang bewahrt hat, sollen angegriffen werden. Kein Wunder, dass ein Bergmann aus Donezk verdutzten europäischen Journalisten erklärte: „Warum sollte ich den Eintritt in die Europäische Union wollen? Ich kann mit 45 in Rente gehen, bei euch kriegt man sie erst mit 60.“
 
Und die Demokratie? Sie ist das letzte, was die ukrainische Bevölkerung von USA und EU zu erwarten hat. Man braucht nur einen Blick auf die neue Regierung zu werfen, die sich mit ihrer Unterstützung gebildet hat.
Fast alle Minister sind reiche Geschäftemacher aus den Machtcliquen, die seit Jahren herrschen – angefangen bei der Milliardärin Julia Timoschenko, reich geworden durch die Ausplünderung der ukrainischen Gasindustrie, die schon zwei Mal Präsidentin war und ihren Posten wegen ihrer Verwicklung in zahllose Korruptionsskandale räumen musste.

Es ist eine Regierung aus Ministern, die allesamt nur eines wollen: Dass die Ausplünderung des Landes und die Unterdrückung der Arbeitenden durch die reichen Machtcliquen weitergehen kann.
 
Ganz stark haben in den Protesten der letzten Wochen die Rechtsradikalen an Einfluss gewonnen. 5 Minister stellen ihre Parteien in der so „demo-kratischen“ Regierung. Sie haben die Verwirrung genutzt, die nach der Flucht des Präsidenten herrschte, und haben Polizeistationen und Rathäuser gestürmt und übernommen. In zahlreichen Orten sind sie heute das Gesetz und terrorisieren Russischsprachige, Juden, Roma, Gewerkschafter…
 
Die westlichen Regierungen ignorieren diese Entwicklung, weil sie ihnen nicht ins Bild passt. Doch die Politik der Rechten, die alle Volksgruppen gegeneinander aufhetzt, kann die ukrainische Bevölkerung in eine finstere, blutige Sackgasse führen. Und sie stärkt natürlich die Angst vieler russisch sprechender Menschen im Osten der Ukraine und damit auch die Kräfte, die für die Spaltung des Landes eintreten.

Dies war es sicher nicht, wovon all diejenigen geträumt haben, die ehrlich die Bande des Präsidenten Janukowitsch loswerden und seine diktatorische Macht beenden wollten. Doch gerade das ist die wichtige Lehre, die wir aus der Ukraine ziehen müssen:
 
Hier wie in Ägypten oder Tunesien haben die Menschen gezeigt, dass es möglich ist, einen Diktator zu vertreiben, wenn eine Bevölkerung entschlossen ist und nicht nachgibt. Doch die entscheidenden Fragen stellen sich erst dann: Wie soll es jetzt weitergehen? Was soll anstelle des alten Regimes kommen?
Und da prallen zwangsläufig sehr unterschiedliche Interessen aufeinander. Nur Kräfte, die organisiert sind und wissen, was sie wollen, können dann Einfluss ausüben. Alle anderen sind dazu verdammt, ohnmächtig zuzusehen oder anderen politischen Kräften als Fußvolk zu dienen. Und genau in dieser Lage befindet sich heute überall die arbeitende Bevölkerung.

Doch die Arbeitenden sind nicht dazu verdammt, immer zuzusehen, wie die sozialen Klassen, die sie ausbeuten, ihre Interessen durchsetzen. Auch die arbeitende Bevölkerung kann in Momenten, wo die alte Macht zusammenbricht, ihre Lebensbedingungen und Interessen verteidigen und erkämpfen: wenn sie sich im Laufe des Kampfes eigenständig organisiert und weiß, wofür sie kämpfen will und muss, um ihr Leben zu verändern.
Das ist auch die einzige Perspektive für die arbeitende Bevölkerung der Ukraine, wenn sie nicht das Opfer der örtlichen und internationalen Machthaber werden will. Und wenn sich die Arbeitenden egal ob ukrainischer, russischer oder tatarischer Herkunft für ihre gemeinsamen, wesentlichen Interessen als Arbeitende, für Arbeit, würdige Lebensbedingungen und demokratische Rechte zusammentun, dann wird im besten Sinne sehr vieles möglich.

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