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Nr. 104, Januar 2018 - Leitartikel

Weniger Stress und kürzere Arbeitszeiten für alle – aber bei gleichem Lohn!

Seit zwei Wochen haben sich hunderttausende Arbeiter an Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie beteiligt. Sie gehen für mehr Lohn auf die Straße, für die Möglichkeit, weniger zu arbeiten und viele, weil sie all die Verschlechterungen satt haben: den wachsenden Druck, die Unsicherheit, das ständige mal Überstunden machen und am Wochenende arbeiten müssen, dann wieder mitten in der Woche nach Hause geschickt werden, weil wenig zu tun ist…

Bei den Bossen und in der Presse hat vor allem die Forderung der IG Metall nach möglicher Arbeitszeitverkürzung für Aufruhr gesorgt. Dabei fordert sie einzig, dass jeder Arbeitende das Recht hat, seine Arbeitszeit für höchstens zwei Jahre von 35 auf 28 Stunden zu verkürzen und dann wieder Vollzeit zu arbeiten. Diese Arbeitszeitverkürzung soll vollständig von den Arbeitern selbst bezahlt werden. Nur für einzelne Gruppen (zum Beispiel Eltern mit Kleinkindern) fordert die IG Metall eine Entschädigung von 60 bis 200 Euro pro Monat.

60 oder 200 Euro machen natürlich den Lohnverlust nicht wieder wett. Aber selbst diese mickrige Entschädigung bezeichnen die Unternehmer schon als „unbezahlbar“, ja als „Unverschämtheit“. Sie empören sich, wie Arbeiter und Gewerkschaft sich erdreisten könnten, weniger arbeiten und dafür auch noch bezahlt werden zu wollen. Und wo wir hinkämen, wenn „die Arbeiter selber entscheiden, wann sie weniger arbeiten“.

Dass die Unternehmer schreien, wenn Arbeiter für kürzere Arbeitszeiten kämpfen, ist nicht neu. Als die Arbeiter einst für den 8 Stunden-Tag gekämpft haben, haben sie den Untergang der Wirtschaft heraufbeschworen. Bei den Streiks für die 35-Stunden-Woche haben sie ebenfalls gejammert. Die irrsinnigen Reichtümer, die die Kapitalisten seitdem angehäuft haben, strafen all ihrem Gezeter Lügen. Und in keinem dieser Kämpfe haben die Arbeiter auf Lohn verzichtet!
Auch heute könnte man die Arbeitszeit und vor allem die Arbeitsmenge für alle problemlos verringern und dafür entsprechend mehr Kollegen einstellen – und zwar ohne dass irgendjemand dafür auf Lohn verzichten müsste.
Die Unternehmen haben uns in den letzten Jahren immer mehr Arbeit aufgehalst, ohne uns dafür mehr Lohn zu zahlen. Die Arbeitsmenge zu verringern, würde einzig die Überausbeutung und die Belastung wieder etwas verringern.

Dies ist nicht das Anliegen der Forderung der IG Metall. Jedem Arbeiter soll einzig individuell das Recht eingeräumt werden, eine Zeit lang etwas weniger zu arbeiten – und zwar ohne dass die Unternehmer hierfür auch nur auf ein bisschen Gewinn verzichten müssten. Denn die Arbeiter sollen es selbst zahlen.
Damit beschränkt sich die Möglichkeit einer 28-Stunden-Woche allerdings auf diejenigen, die es sich irgendwie leisten können, mit entsprechend weniger Lohn klarzukommen. Für viele reicht der Lohn hierzu vorne und hinten nicht aus.

Und noch viel mehr Arbeiter werden dadurch ausgeschlossen, dass es (anders als bei einer Arbeitszeitverkürzung für alle) eine individuelle Entscheidung ist, die jeder einzeln gegenüber seinem Chef durchsetzen muss. Gerade in kleineren Betrieben werden viele Arbeiter die Arbeitszeitverkürzung nicht durchsetzen können, weil ihr Chef ihnen sonst schlicht mit Entlassung droht.

„Individuelle“, das heißt unterschiedliche Löhne und Arbeitszeiten zwischen den Arbeitern bergen grundsätzlich eine Gefahr. Wir erleben es tagtäglich. Denn die Unternehmer haben bereits viele Unterschiede durchgesetzt: zwischen Leiharbeitern, Befristeten und Festangestellten, zwischen Jüngeren und Älteren, Frauen und Männern, zwischen „eigenen“ Arbeitern und „Fremd“-Firmen. Je unterschiedlicher aber die Bedingungen der Arbeiter sind, desto einfacher können die Unternehmer verbreiten, dass jeder Arbeiter andere Interessen hätte und jeder sich am besten nur um sich selber kümmere. Und desto schwerer entwickelt sich das Bewusstsein, dass alle Arbeiter zusammenhalten müssen, dass sie Teil einer Arbeiterklasse sind, die im Grunde alle dieselben grundlegenden Probleme und Interessen haben.

Wie man sieht, birgt die Forderung der IG Metall also keine Gefahr für die Unternehmer, sie kostet auch nichts. Doch das hindert die Bosse nicht daran, zu schreien – und zwar auch, um dadurch ihre eigenen Forderungen nach mehr Flexibilität durchsetzen zu können.

Sie stellen sich dreist hin und sagen: „Wenn es ein Recht auf Arbeitszeitverkürzung gibt, dann muss jeder Arbeiter auch umgekehrt das ‚Recht‘ haben, mehrere Jahre lang ‚freiwillig‘ länger, also zum Beispiel 40 statt 35 Stunden die Woche zu arbeiten.
„Freiwillig“? Kaum jemand arbeitet freiwillig fünf Stunden mehr pro Woche. Wenn man mehr arbeitet, dann weil man seine Rechnungen zahlen muss und die Unternehmer zu niedrige Löhne zahlen. Oder weil die Bosse einem mit Verlagerung drohen oder damit, dass man sich sonst einen anderen Job suchen könne.

Sie jammern also einzig, weil sie ihrem Ziel noch näher kommen wollen, uns jederzeit, flexibel nach ihren Bedürfnissen ausbeuten zu können. Ja, die Unternehmer besitzen Klassenbewusstsein und wissen, was sie wollen. Wir Arbeiter brauchen das auch!
Wir dürfen uns nicht noch weiter vereinzeln lassen! Die Zukunft wird davon abhängen, dass wir uns wieder bewusst werden, dass wir alle zu einer Klasse gehören, dass wir uns für unsere gemeinsamen Interessen wieder zusammenschließen, über die Betriebe, Berufe und Branchen hinweg. Nur so werden wir letztlich das Kräfteverhältnis wieder umdrehen können, das im Moment zugunsten der Kapitalisten ist.

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