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Nr. 89, September 2016 - Internationales

Türkei: Und was sind die Interessen der Arbeiter?

Seit dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei geht der Staatschef Erdogan mit drastischen Maßnahmen gegen seine Gegner im Staatsapparat vor. Doch nicht nur gegen sie: 80.000 Angestellte des Staates wurden suspendiert, 50.000 von ihnen wurden entlassen: darunter einfache Beamte, Lehrer,… Tausende wurden auf einen Schlag verhaftet.

Erdogan behauptet, diese Maßnahmen wären nötig, damit so etwas wie dieser Militärputsch nicht wieder geschieht. Und fast alle anderen großen Parteien haben ihn unterstützt, insbesondere die größte (sozialdemokratische) Oppositionspartei CHP.

Die CHP ist gemeinsam mit Erdogan auf Großveranstaltungen aufgetreten und hat die Einheit des Volkes gegen den Militärputsch beschworen – wohl in der Hoffnung, dadurch selber wieder mehr Posten und Einfluss zu bekommen. Doch vergeblich: Nachdem Erdogan sich mit ihrer Hilfe sein Bild als „Verteidiger der Demokratie“ geschaffen hatte, hat er der CHP einen Tritt in den Hintern versetzt.

In Wahrheit nutzt Erdogan den Militärputsch nun als Gelegenheit, um seine politischen Rivalen zu beseitigen. Seit mehreren Jahren nämlich schon gab es einen erbitterten Kampf zwischen zwei Cliquen im Staatsapparat: einerseits den Anhängern des islamischen Predigers Gülen, die viele hohe Posten in der Polizei und den Behörden innehatten und auch hinter dem Militärputsch vermutet werden – und andererseits den Vertrauten Erdogans.

Beide Cliquen waren anfangs Teil der Regierungspartei AKP gewesen. Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gab es nicht. Doch aus Machtstreben sind sie erbitterte Rivalen geworden, wobei Erdogan an der Regierung war und Gülen die Unterstützung der USA hatte.
Erdogan hat nun die Gunst der Stunde genutzt, um die gegnerische Clique zu zerschmettern.

Doch nach der ersten Säuberungswelle macht er nun mit anderen politischen Gegnern weiter: Vor kurzem hat er 11.300 Lehrer sowie mehrere Bürgermeister wegen angeblicher Unterstützung der kurdischen Befreiungsbewegung suspendiert. Und wer kommt als nächstes dran?

Auch spricht Erdogan davon, vielleicht die Todesstrafe wieder einzuführen… die er selber erst abgeschafft hatte.
Ja, Erdogan ist dabei, im Namen der „Verteidigung der Demokratie“ eben diese Demokratie abzuschaffen.
Der entstandene Einschüchterungs- und Unterdrückungsapparat ist eine Gefahr für alle; für alle, die eine andere Meinung haben und selbstverständlich für die Arbeiterklasse. Denn an dem Tag, wo die Arbeiter anfangen, sich gegen die Folgen der immer heftigeren wirtschaftlichen Krise zu wehren, wird Erdogans Regierung auch auf sie einschlagen.

Noch ist der Name Erdogan für viele Arbeiter im Gegenteil mit Verbesserungen für sie verbunden. Denn ein bedeutender, zehn Jahre langer Wirtschaftsaufschwung hatte es Erdogans Regierung ermöglicht, merkliche Verbesserungen bei der Rente, dem Gesundheitswesen, den Löhnen oder auch dem Straßenbau durchzuführen. Der Aufschwung war allerdings nicht Erdogans Verdienst, sondern die Folge der weltwirtschaftlichen Lage.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Als Folge weltwirtschaftlicher Veränderungen und Börsenspekulationen verliert die türkische Lira immer weiter an Wert. Alles wird dadurch immer und immer teurer – viele Löhne reichen vorne und hinten nicht mehr. Seit zwei Jahren kommt es deswegen immer wieder zu Streiks in Fabriken. Und mehr als einmal hat Erdogans Regierung den Bossen geholfen, indem er Polizei und Armee gegen die Streikenden geschickt hat.

Außerdem hat Erdogans Außenpolitik die Krise verschärft. Er hat sich mit den Handelspartnern Syrien und Iran überworfen, dann mit Russland. Er hat den Krieg gegen die Kurden wieder angefangen. Er hat den IS unterstützt und dann fallen gelassen, der nun immer wieder Anschläge verübt.

Die Folge von alledem sind Insolvenzen, Entlassungen, am schlimm-sten in der Tourismus-Branche. In diesem Sommer haben in Antalya mehrfach Arbeitende die Hotels bestreikt und besetzt, weil man ihnen monatelang keinen Lohn gezahlt hat.
Und auch die Regierung selber hat aus all diesen Gründen weniger Einnahmen und noch dazu gibt sie ihr Geld für Krieg aus. Daher fängt sie nun an, bei den Arbeitenden sparen zu wollen. Die Regierung redet bereits davon, das Arbeitslosengeld, das in der Türkei Abfindung heißt, komplett abzuschaffen. Das wäre für viele Arbeiter dramatisch!

Dass die Arbeiter angesichts dieser Entwicklung ihre Existenz, ihre Interessen als Arbeiter verteidigen – dieser Kampf und nicht der Kampf zwischen Cliquen im Staatsapparat wird entscheidend sein für die Arbeiterklasse und ihre Zukunft. Und es ist letztlich auch der einzige Kampf, der die politische Lage in der Türkei wirklich verändern kann.

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