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Nr. 139, Februar 2021 - Internationales

Russland: Massenproteste gegen das Regime

Ende Januar hat Russland die größten Proteste seit 20 Jahren erlebt. In ungefähr hundert Großstädten Russlands kam es am 23. Januar zu Demonstrationen, eine Woche später erneut.

Auslöser war einerseits die Forderung nach der Freilassung des Politikers Nawalny, den Putin hat verhaften und zu dreieinhalb Jahren Straflager verurteilen lassen, kaum war er aus Deutschland zurückgekehrt, wo er nach einem Giftanschlag durch den Geheimdienst behandelt worden war.

Doch vielleicht mehr noch war es das von Nawalnys Anhängern veröffentlichte Video, das Putins bislang geheim gehaltenen Palast am Schwarzen Meer zeigte: ein Anwesen 39 mal so groß wie das Fürstentum von Monaco, mit zwei Hubschrauberlandeplätzen, Kasino, Eislaufbahn, Theater... für geschätzte 1,12 Milliarden Euro. Unter anderem sollen Gelder, die eigentlich für den Bau eines großen Krankenhauses gedacht waren, für diesen Palast „abgezweigt“ worden sein.

Angesichts dieser Bilder explodierte die angestaute Wut vieler Menschen über Putin und all die anderen Bürokraten, die die Reichtümer des Staates plündern und sich auf unverschämte Weise bereichern, während ein wachsender Teil der Bevölkerung verarmt.

Das Regime ist mit extremer Polizeigewalt vorgegangen, um die Demonstrationen zu beenden. Über 5.000 Menschen wurden beim ersten Mal verhaftet, beim zweiten Mal noch mehr.

Doch mit viel Mut widersetzten sich die Demonstranten. Manchmal griffen sie sogar die Polizei an, um ihr schon festgenommene Demonstranten wieder zu entreißen, wie es die Arbeiter von Lada-Renault in Togliatti für einen ihrer Arbeitskollegen taten. Oder sie belagerten ein Polizeikommissariat, um die Freilassung ihrer Kollegen zu erreichen.
Und auch viele, die sich nicht auf die Straße trauten, bezeugten ihre Unterstützung für die Demonstranten und – was neu ist – diskutierten darüber am Arbeitsplatz.

Noch bis vor wenigen Jahren hatte Putin viel Rückhalt in der Bevölkerung. Er galt als derjenige, der Russland aus dem Chaos und Verfall der 90er Jahre gerettet und den Menschen Stabilität, feste Einkommen und Würde zurückgebracht hatte. Doch die Wirtschaftskrise, der Rückgang der Industrieproduktion und der Einnahmen aus Gas- und Ölexporten haben die Lebensbedingungen in den letzten Jahren massiv verschlechtert – und 2020 noch schlimmer als vorher.

Während Millionen Arbeitende mit mickrigem Kurzarbeitergeld dastehen und viele andere ihren Job verloren haben, haben sich die Preise für Obst, Gemüse, Fleisch und andere Nahrungsmittel verdreifacht. Ganze Teile der Arbeiterklasse sind in die Armut abgerutscht, ebenso Teile des Kleinbürgertums, der kleinen Händler, Selbstständigen... Immer häufiger kommt es zu Streiks für höhere Löhne, oder dafür, dass die Löhne überhaupt gezahlt werden.

Der Erfolg der Demonstrationen im Januar hat gezeigt, dass die Wut auf das Regime und die Unzufriedenheit mit der sozialen Lage zunehmen. Und eben in den Protesten, den sozialen Explosionen der arbeitenden Bevölkerung liegt die Hoffnung – nicht in einem Nawalny, der uns hier in den Medien gerne als der „Hoffnungsträger“ für Russland präsentiert wird.

Seine Inhaftierung kann man nur verurteilen. Doch was zwischen ihm und Putin abläuft, ist ein Kampf von Cliquen um die Macht. Nawalny, der an rechten Aufmärschen gegen Einwanderer teilnahm, der sich Verbündete unter den rechtsnationalistischen Gruppen wie auch unter hohen Staatsbürokraten gesucht hat, und dessen Wirtschaftsprogramm in der Forderung nach „mehr Kapitalismus“ besteht: Dieser Nawalny ist vielleicht eine Hoffnung für das internationale Kapital, eine Möglichkeit, Putin irgendwann zu ersetzen, ohne dass sich irgendetwas Grundlegendes ändert.
Doch für die russische Bevölkerung würde die Herrschaft der Bürokraten, würden Ausbeutung, Armut und Repression mit ihm genauso weitergehen.

Doch wenn Wut, Proteste und Streiks unter der arbeitenden Bevölkerung zunehmen, und wenn dies dazu führt, dass Arbeitende wieder anfangen sich eigenständig zu organisieren, um ihre Interessen zu vertreten – unabhängig von Bürokratie, Groß- und Kleinbürgertum – dann kann die Arbeiterklasse eine wirkliche Veränderung der Verhältnisse einläuten.

(in Anlehnung an Artikel unserer französischen Genoss*innen von Lutte Ouvrière in ihrer gleichnamigen Zeitung vom 29. Januar 2021)

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