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Nr. 114, Dezember 2018 - Internationales

Frankreich: Die Protestbewegung der gelben Westen

Seit vier Wochen gehen in Frankreich jeden Samstag 100.000 – 300.000 „Gelbwesten“ auf die Straße. In vielen, vor allem mittleren und kleineren Städten, besetzen Gruppen von ihnen täglich Kreisverkehre oder Mautstellen.
 
Auslöser der Bewegung war die Ankündigung Macrons, eine zusätzliche Steuer auf Diesel einzuführen. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat: Dass die Arbeiter immer bezahlen sollen, um überhaupt zur Arbeit zu kommen – und das, wo es jetzt schon vorne und hinten nicht reicht.
 
Schnell ging es nicht mehr nur um die eine Steuer, sondern um die Kaufkraft allgemein. Um die vielen Teilzeitbeschäftigten und Rentner, die von 800 Euro leben und davon noch Steuern zahlen. Um all die Arbeiterfamilien, die kaum mehr als den Mindestlohn verdienen und wo ab Mitte des Monats jeder Tag ein Kampf ist. Und die Arroganz der „Regierung der Reichen“, die die Vermögenssteuer abschafft, während sie der einfachen Bevölkerung immer mehr wegnimmt.
 
Keine Partei oder Gewerkschaft hat diese Bewegung ins Leben gerufen. Sie ist von unten entstanden, und die Teilnehmer organisieren sie selbst. Während einer Blockade, bei Versammlungen oder über Facebook organisieren sie die Aktionen für die nächsten Tage.
Viele Gelbwesten haben noch nie demonstriert oder gestreikt und wehren sich zum ersten Mal, mit vielen gemeinsam. Während der vielen Stunden, in denen sie gemeinsam eine Straßenblockade organisieren, lernen sie sich kennen, reden miteinander. Menschen bringen Essen und Trinken vorbei. Viele erleben zum ersten Mal die Kraft der Solidarität.
 
Weil die Bewegung von unten entstanden ist, gibt es auch keine vorherbestimmten Sprecher, die an Stelle der Protestierenden das Wort führen. Stattdessen reden ganz normale Leute für die Bewegung – Menschen, die nie vorher in ihrem Leben Politik gemacht haben. Sie diskutieren im Fernsehen mit routinierten Journalisten oder Ministern der Regierungen. Und meist sind diese „einfachen Leute“ die Überzeugenderen.
 
Mit ihrer Entschlossenheit und Unberechenbarkeit hat die Bewegung den jungen und selbstsicheren Präsidenten Macron, der so arrogant versucht, die Interessen der Kapitalisten durchzusetzen, in eine ernste Regierungskrise gebracht. Seit vier Wochen versucht er vergeblich, die Proteste zu beenden.
 
Er hat versucht, sie zu ignorieren. Vergeblich. Er hat versucht, sie als zerstörerische Wilde zu verleumden. Vergeblich. Konstant haben 70-80% der Bevölkerung die Bewegung unterstützt.
Er hat versucht, sie einzuschüchtern: Nachdem die Regierung tagelang vor der Gewalt der Gelbwesten gewarnt hat, um alle auf Schlimmes vorzubereiten, ist sie mit unglaublicher Brutalität und immensen Polizeiaufgeboten gegen die Protestierenden vorgegangen.
 
Rentner und Verkäuferinnen, die zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrierten, wurden von gepanzerten, schwerbewaffneten Polizisten mit Tränengasgranaten angegriffen. Eine 80jährige, die ihre Fensterläden schließen wollte, starb an den Verletzungen durch eine solche Granate.
150 Schülerinnen und Schüler mussten sich wie Kriegsgefangene hinknien, wurden mit Kabelbindern gefesselt und mussten so über Stunden ausharren. Doch alles vergeblich. Statt sie einzuschüchtern, hat die Regierung die Wut und Entschlossenheit der Protestbewegung eher verstärkt.
 
Macron hat versucht, über die sozialen Netzwerke „Anführer“ unter den Gelbwesten wählen zu lassen, um sie in den Präsidentenpalast einzuladen und mit ihnen zu „verhandeln“ – damit sie dann für ihn die Bewegung beenden. Doch statt sich darauf einzulassen, sind die Auserwählten lieber weiter demonstrieren und blockieren gegangen und haben so den Druck auf die Regierung verstärkt.
 
Und nachdem Macron anfangs erklärt hatte, er werde „von seiner Politik nicht abweichen“, ist er immer weiter zurückgewichen. Nach zwei Wochen hat er die Steuererhöhung auf Diesel zurückgenommen. Und – als die Bewegung trotzdem ungebrochen weiterging – hat er vor wenigen Tagen eine Steuererhöhung für Rentner zurückgezogen und einen staatlichen Zuschuss beim Mindestlohn versprochen. Er hofft, dadurch die Bewegung endgültig zu beruhigen. Doch nichts ist weniger sicher. Viele wollen weitermachen. Sie haben die Nase voll, sie wollen, dass sich endlich etwas an den täglich auslaugenden Lebensbedingungen ändert. Und ihre Entschlossenheit hat bereits andere ermutigt: Seit anderthalb Wochen streiken und demonstrieren Schüler an hunderten Schulen im Land.
 
In dieser „Ansteckungsgefahr“ liegt das wichtigste Potential. Die Bewegung der Gelbwesten selber stößt aufgrund ihrer sozial gemischten Zusammensetzung und aufgrund ihrer Druckmittel, den Straßenblockaden, schnell an Grenzen. In ihr sind zwar viele lohnabhängige Arbeiter aktiv, aber nicht in den Betrieben und ohne klare Forderungen als Arbeiter.
 
Denn die Ursache für die wachsende Armut liegt nicht nur in Sprit- oder sonstigen Steuern, sondern in den niedrigen Löhnen und daran, dass alle Preise unentwegt steigen. Die täglichen Existenzsorgen der arbeitenden Bevölkerung lassen sich daher nicht bekämpfen, wenn sie auf 800 oder 1000 Euro Lohn etwas weniger Abgaben zahlen müssen. Ganz abgesehen davon, dass die Regierung Macron das, was sie der einfachen Bevölkerung jetzt weniger an Spritsteuer oder Steuer auf Renten stiehlt, stattdessen an anderer Stelle wegnehmen wird.
 
Die arbeitende Bevölkerung kann sich nur vor der Verarmung schützen, wenn sie eine ernsthafte Erhöhung aller Löhne, Renten und Sozialhilfen erkämpft und deren automatische Koppelung an die Preise und Lebenshaltungskosten. Und dazu muss sie gegen die vorgehen, die über ihre Löhne entscheiden: die Kapitalisten.
 
Hierfür müssen die Arbeitenden dort mobilmachen, wo sie auf die Kapitalisten Druck ausüben und ihnen Angst einjagen können: in den Betrieben. Hier sind die Arbeitenden in einer Machtposition. Denn ihre Arbeit ist die Grundlage für das Allerheiligste der Kapitalisten: ihren Profit.
 
Die entscheidende Frage für die Zukunft der arbeitenden Bevölkerung wird sein, ob die Entschlossenheit und die Erfolge der Gelbwesten den Arbeiterinnen und Arbeitern Mut und Hoffnung geben, sich nicht nur individuell in den Blockaden, sondern als soziale Klasse mit ihrer mächtigen Waffe in den Kampf zu werfen: dem Massenstreik.

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