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Nr. 142, Mai 2021 - Leitartikel

Das „Grundrecht“ auf Rente... mit 69??

Seit zwei Wochen gibt es bei allen Parteien nur noch ein Thema: die Grundrechte, die wir so schnell wie möglich zurückbekommen müssten, womit sie Einkaufen ohne Einschränkungen, Restaurantbesuche, Urlaubsreisen und Bewegungsfreiheit meinen.

Woher auf einmal ihre Sorge um diese Grundrechte? Dieselben Politiker hat es doch auch nicht interessiert, dass diese Freiheiten seit Jahren immer mehr Menschen weggenommen werden – schlichtweg, weil ihnen das Geld hierfür fehlt. Wer entlassen oder in einen Niedriglohnjob gedrängt wird, hat kaum noch die Möglichkeit, regelmäßig in den Urlaub zu fahren oder häufiger Live-Konzerte und Restaurants zu besuchen. Wer 40% seines Einkommens nur für die Miete ausgeben muss, hat nicht die Möglichkeit, sein Leben jenseits von Arbeit und Schlafen „frei“ zu gestalten.

Und überhaupt: Ihre vielbeschworenen Freiheitsrechte enden für uns Arbeitende jeden Tag, sobald wir im Betrieb angekommen sind. Hier haben wir 8 Stunden Ausgangssperre, in der unser Chef uns befehlen kann, was wir zu tun haben und wohin wir gehen dürfen. Und ein Grundrecht auf Meinungsfreiheit gibt es im Betrieb erst recht nicht. Wir dürfen (zumindest wenn wir unseren Job behalten wollen) nicht frei äußern, was wir über unsere Chefs denken, über die Abläufe und Arbeitsbedingungen – ganz zu schweigen davon, dass wir irgendetwas mitentscheiden dürften.
Und dass wir Arbeitenden uns in die Regierungspolitik einmischen, und gemeinsam unsere Interessen vertreten, das haben die Herrschenden ebenfalls schon immer zu verhindern versucht.

All diese fehlenden Grundrechte bereiten den herrschenden Politikern keine Kopfschmerzen, im Gegenteil.
Worum es bei der heutigen Diskussion eigentlich geht, ist ihr Wunsch, Reiseunternehmen, Luftfahrtgesellschaften, Gastronomie und Geschäften so schnell wie möglich wieder mehr Kunden zu bescheren. Das „Grundrecht“ der Wirtschaft auf Gewinn, das wollen sie schützen und so schnell wie möglich von jeder Einschränkung befreien.

In dieser ganzen Diskussion tritt völlig in den Hintergrund, dass sich immer noch 20.000 Menschen täglich mit Corona infizieren und nicht wenige von ihnen Folgeschäden davontragen werden. Und vor allem, dass noch immer 200-300 Menschen täglich sterben!
Und es ist vor allem die arbeitende und ärmere Bevölkerung, die täglich diesem Risiko ausgesetzt wird. Es ist kein Zufall, dass es in fast allen Großstädten ähnlich aussieht wie in Köln, wo die Inzidenz im Villenviertel Köln-Hahnwald bei 0,0 liegt, im ärmeren Arbeiterviertel Köln Chorweiler hingegen bei über 500. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, und ganz besonders die ärmeren, erkranken wegen der Arbeit und den Wohnverhältnissen nicht nur viel häufiger an Corona. Sie erkranken auch viel häufiger schwer und sterben, weil Arbeit und Armut viele schon vorher krank gemacht haben.

Nein, die Grundrechte der Arbeitenden werden in dieser Gesellschaft auf keiner Ebene geschützt. Für uns gibt es weder ein Recht auf einen sicheren Arbeitsplatz und einen anständigen Lohn, noch auf den Schutz unserer Gesundheit. Im Gegenteil, um das kapitalistische Recht auf immer mehr Profit durchzusetzen, schränken die herrschenden Politiker selbst die bestehenden Rechte der Arbeitenden immer weiter ein.

Dieselben Politiker, die heute über Grundrechte faseln, haben all die Gesetze zur Ausweitung der Leiharbeit, der Minijobs oder zur Aufweichung des Kündigungsschutzes verabschiedet. Gesetze, die Millionen Arbeitenden nicht nur Lohn, sondern auch viele Rechte im Arbeitsalltag geraubt haben. Denn jeder weiß, wie viel schwerer es ist, selbst das Recht auf Pause, auf Feierabend oder auch nur auf Arbeitskleidung durchzusetzen, wenn man mit der Sorge im Nacken arbeitet, jederzeit entlassen werden zu können.

Dieselben herrschenden Parteien haben den Konzernen und Kapitalisten, die ohnehin schon an Reichtum ersticken, immer noch mehr Steuern und Subventionen geschenkt und dafür bei uns gespart. Diese Sparmaßnahmen haben Frauen die Sicherheit genommen, ihr Kind in einem Krankenhaus in der Nähe zur Welt zu bringen. Sie haben den älteren Menschen in den kaputtgesparten Pflegeheimen das Recht auf ein würdiges Leben im Alter geraubt. Wären das nicht die allerwichtigsten Grundrechte?

Und diese Einsparungen gehen weiter. In der Pandemie hat die Regierung Schulden in einer Höhe gemacht, die alles Bisherige in den Schatten stellt. Diese Schulden wurden zum größten Teil dazu genutzt, um das Großkapital vor allen Folgen der Krise zu bewahren. Ja, sie haben ihm sogar noch ermöglicht, sich an der Krise zu bereichern.
Und sobald der Wahlkampf im September vorbei ist, wird die neue Regierung anfangen, die Raten für diese Schulden einzutreiben. Aber nicht beim Großkapital, sondern bei uns.

Um uns an diesen Gedanken zu gewöhnen, haben uns die „Wirtschafts-forschungsinstitute“ (die wichtige Berater der Regierung sind) einen ersten Einblick in die Ideenwerkstatt gegeben, die hierzu bereits existiert. Mitte April haben sie verkündet, dass man jetzt unbedingt „die Staatsfinanzen wieder in den Griff bekommen“ müsse und dafür als ersten Schritt... das Rentenalter noch weiter erhöhen solle – auf 69!

Die Botschaft ist eindeutig: Während und nach der Pandemie werden die Grundrechte der Arbeiterklasse, werden unsere Existenzbedingungen schonungslos angegriffen. Und wer wird sie verteidigen, wenn nicht wir Arbeitenden selber?

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