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Nr. 64, Mai 2014 - Leitartikel

Von der Ukraine bis Deutschland: Nieder mit dem Nationalismus! 

Tag für Tag versinkt die Ukraine tiefer im Bürgerkrieg. Die einfache Bevölkerung ist gefangen zwischen den rechtsextremen ukrainischen Milizen, den pro-russischen Milizen und den Kampfein-sätzen der Armee.

Wohin wird diese Spirale der Gewalt führen? Zu Strafmaßnahmen gegen alle, die nicht die „richtige Sprache“ sprechen oder die an der „falschen“ Nationalflagge festhalten? Zu einer Teilung der Ukraine, zu einer Grenze mitten durch das Land, die Städte, Familien, Freunde auseinanderreißt? Zu einem neuen Graben aus Blut und Hass, wie in Jugoslawien vor 20 Jahren?
Die Bevölkerung kann nur verlieren, wenn sie sich in diesen nationalistischen Fehden auseinanderreißen lässt.

Die von Russland betriebene Propaganda ist widerwärtig. Doch die Propaganda der westlichen Medien ist ebenso gefährlich. Sie prangern unablässig den „heimlichen Drahtzieher Putin“ an, doch was soll man von der anderen Seite sagen? Von den USA, die seit Jahren versteckt daran arbeiten, die Ukraine in ihr wirtschaftliches, politisches und militärisches Einflussgebiet zu ziehen.

Was soll man über die Westmächte sagen, die die Kraftprobe ausgelöst haben, weil sie den Einfluss Russlands in der Ukraine zu ihren Gunsten zurückdrängen wollten, obwohl die Geschichte, die Wirtschaft und die Bevölkerung dieser beiden Länder ganz eng miteinander verwoben sind.
Heute unterstützen die amerikanischen und europäischen Machthaber die provisorische Regierung in Kiew: eine Regierung, in der mehrere wichtige Minister Rechtsextreme sind, die sich offen auf die Nazis berufen. Der Beweis dafür, dass die westlichen Regierungen – genau wie Putin – bereit sind, sich auf die finstersten, rückschrittlichsten Kräfte zu stützen. Genau wie Putin zählen sie zu den Kriegsverbrechern.
 
Die fürchterliche Tragödie in der Ukrai­ne sollte uns außerdem zum Nachdenken bringen, denn sie ist auch Ausdruck einer stärker werdenden reaktionären und nationalistischen Strömung in ganz Europa und auch innerhalb der EU.
Im derzeitigen Europawahlkampf reiben sich die Parteien, die auf nationalistische und fremdenfeindliche Abgrenzung setzen, die Hände. Für sie sind diese Wahlen die Gelegenheit, sich in exzessiver Heimatliebe und Nationalismus zu übertreffen.
 
Die europäischen Bevölkerungen haben Gründe genug, sich nicht mit dem heutigen Europa zu identifizieren. Vom europäischen Aufbau haben die Ungarn oder die Griechen nichts als die deutschen oder französischen Banken und Großkonzerne gesehen, die sich wie Raubtiere auf sie gestürzt haben.
Von Europa haben sie nichts gesehen als die Gerichtsvollzieher, die sie aufgefordert haben, das Wenige an Sozialsystemen zu zerstören, das sie hatten; sie haben nichts gesehen als die Krise, die sie zur Arbeitslosigkeit verdammt hat. Doch wurden sie von ihren einheimischen Regierungen, Banken und Bossen besser behandelt?
 
Die Arbeitenden wissen, dass sie von den europäischen Institutionen nichts zu erwarten haben. Ihre Maßnahmen zur „Gleichberechtigung“ von Mann und Frau bestanden darin, den Kapitalisten zu erlauben, Frauen generell auch Nachts auszubeuten. Abtreibung hingegen ist noch immer nicht in allen EU-Ländern erlaubt. Und einen europäischen Mindestlohn einzuführen und dafür die Mindestlöhne der einzelnen Länder nach oben, an den höchsten Mindestlohn anzugleichen, das stand
nie auch nur zur Debatte.
 
Doch die einzelnen, nationalen Regierungen sind nicht besser! Auch sie versuchen immer nur, die Rechte der Arbeitenden oder Arbeitslosen so weit wie möglich… nach unten anzugleichen.
Diejenigen, die die Europäische Union ablehnen und dabei glauben machen, dass die nationale Abkapselung der arbeitenden Bevölkerung Glück und Wohlstand bringen würde, sind Lügner.
 
Als ob die Kapitalisten und die Regierungen uns nur wegen der EU angreifen würden! Als ob Merkel die Rente mit 67 von der EU eingeflüstert bekommen hätte! Als ob uns E.ON die Strompreise in D-Mark weniger erhöhen würde als in Euro! Und wenn Zalando Leiharbeiter wie Sklaven ausbeutet und Siemens beschließt, zehntausend Arbeitende zu entlassen, aber Milliarden für den Kauf von Alstom auszugeben, dann ist auch daran nicht Brüssel schuld.

Die Nationalisten machen die EU, die Ausländer und die Immigranten zu Sündenböcken. Sie lenken die Arbeitenden von dem einzigen Kampf ab, den sie führen müssen: den Kampf gegen die Kapitalisten, ihre Gier und ihre Profite. Der Nationalismus ändert gar nichts an der Ausbeutung. Er fügt nur noch Willkür hinzu; gegen denjenigen, der nicht die „richtige“ Staatsangehörigkeit hat, nicht die „richtige“ Sprache spricht, nicht dieselbe Religion wie die anderen hat.
 
Die Ereignisse in der Ukraine führen uns vor Augen, was für eine tödliche Falle der Nationalismus ist – eine Falle, die von heute auf morgen über einer ganzen Bevölkerung zuschnappen kann. Alle diejenigen, die von Donezk und Kiew bis Berlin versuchen, die Arbeitenden gegeneinander aufzuhetzen, sind Feinde der Arbeitenden. Lassen wir dieses Gift der Spaltung nicht zu!

(Artikel übersetzt nach: Lutte Ouvrière, 9.Mai 2014)

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