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Nr. 108, Mai 2018 - Leitartikel

Was steckt hinter ihrem sogenannten „Fachkräftemangel“?

Was für eine verkehrte Welt! Während Millionen ArbeiterInnen keinen Vollzeit-Job finden, Zehntausende entlassen werden und die Mehrheit der Anderen sich Sorgen macht, ob sie morgen noch Arbeit hat, jammern die Herrschenden, sie würden keine „Fachkräfte“ finden.

Was meinen sie überhaupt mit „Fachkräfte“? Sind all die Arbeiter, die die Unternehmer entlassen oder in Leiharbeit zwingen, etwa keine Fachkräfte? Sind die Putzfrauen im Krankenhaus, die beim Reinigen der Operationssäle zahlreiche Hygiene-Vorschriften kennen müssen, etwa keine Fachkräfte? Die Arbeiter, die zwanzig Meter hohe, stabile Gerüste aufbauen? Ganz zu schweigen von den Leiharbeitern, die sich alle paar Monate in eine neue, oft hoch spezialisierte Tätigkeit einarbeiten müssen?

Ihre arrogante Unterscheidung von fehlenden „Fachkräften“ und „sonstigen Arbeitern“ dient vor allem dazu, uns selber die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben, wenn wir keinen vernünftigen Job finden. Statt Siemens, Opel und Co. mit ihren Massenentlassungen und Auslagerungen dafür verantwortlich zu machen, sollen wir denken, wir hätten uns nicht genug angestrengt oder den falschen Beruf gewählt. Eine Lüge!

Zwar gibt es tatsächlich einige Berufe, in denen es mehr freie Stellen als ausgebildete Arbeiter gibt, wie in der Pflege, in einigen technischen Berufen oder bei der Bahn. Doch selbst hier haben die Betriebe gar nicht vor, ernsthaft was gegen den Mangel zu unternehmen.

Denn natürlich könnten sie ihn einfach beenden. Das haben sie in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen. Nach dem 2. Weltkrieg zum Beispiel, als die Konzerne auf Hochtouren produzieren wollten, aber viele qualifizierte und erfahrene Arbeiter im Krieg ums Leben gekommen waren. Da haben sich die Unternehmer auch nicht davon abhalten lassen, dass viele 14jährige mit Volksschulabschluss kaum lesen und schreiben konnten. Sie stellten die nötigen Mittel bereit, um sie auszubilden. Mehr noch: Sie erhöhten die Löhne, gewährten mehr Freizeit und bessere Arbeitsbedingungen, damit die Arbeiter nicht zu einem anderen Betrieb wechselten.

Doch heute passiert das Gegenteil. Sie jammern darüber, dass sie keine ausgebildeten Arbeiter finden, aber die Zahl der Aus- und Weiterbildungsplätze erhöhen sie nicht. In Bundesländern wie NRW geht sie sogar zurück.

Die Konzerne hocken da wie fette Kröten und warten darauf, dass ihnen die perfekt passenden Arbeiter in den Mund fliegen. Und wenn die nicht kommen, dann lassen sie die Stelle lieber unbesetzt, als dass sie auch nur einen Cent von ihren Profiten für mehr Aus- und Weiterbildung oder gar für bessere Arbeitsbedingungen abgeben.
Im Gegenteil, auch die Berufe, die sie angeblich händeringend suchen – wie Informatiker, Physiotherapeuten oder Elektriker – werden reihenweise in schlechter bezahlte Tochter- oder Fremdfirmen ausgelagert. Und Flüchtlinge, die eine Ausbildung zur Altenpflegerin machen, werden abgeschoben.

Mehr noch: Sie nutzen den „Fachkräftemangel“, um zahllose weitere Verschlechterungen zu rechtfertigen.

Die Bahn-Chefs sagen: „Es gibt einfach nicht genug Lokführer. Deshalb ‚müssen‘ die Lokführer flexibel sein und damit leben, dass sie erst kurz vorher erfahren, wann sie nächste Woche arbeiten müssen.“ Die Klinikleitungen sagen: „Wir finden einfach keine zusätzlichen Krankenschwestern. Deshalb ‚müssen‘ sie nachts alleine zwei Stationen versorgen, spontane Schichtwechsel mitmachen und an freien Tagen arbeiten kommen.“ Die Regierung behauptet sogar, sie würde so gerne die Schulen und Brücken sanieren, doch leider würden ihr die Fachkräfte fehlen!
In der Metallindustrie haben die Bosse durchgesetzt, dass sie ganzen Teilen der Belegschaften 40-Stunden-Arbeitsverträge aufzwingen dürfen, „weil die wenigen Fachkräfte die Arbeit in 35 Stunden nicht schaffen“ könnten.
In der letzten Tarifrunde des Öffentlichen Dienstes haben sie den Busfahrern, Müllwerkern und Reinigungskräften erklärt, sie könnten ihnen nicht so viel Lohnerhöhung zahlen. Sie bräuchten das Geld angeblich dringender für die fehlenden Fachkräfte.

Und führende CDU-Politiker in Berlin haben sogar gefordert, Arbeitssuchenden sofort das gesamte HartzIV und das Wohngeld zu streichen, wenn sie auch nur ein Jobangebot ablehnen. Denn angesichts des Fachkräftemangels könne es doch nicht sein, dass es Menschen gibt, die nicht arbeiten.
Natürlich wissen sie, dass eine 45jährige ehemalige Schlecker-Verkäuferin keinen Job als Informatikerin oder Lokführerin bekommt. Ihnen geht es einzig darum, die Arbeitssuchenden mit dieser Drohung zu zwingen, auch wirklich jeden noch so mies bezahlten und weit entfernten befristeten Job anzunehmen.

Ja, für Unternehmer und Staat ist der „Fachkräftemangel“ zu einer neuen Allzweck-Waffe geworden, mit der sie alle möglichen Verschlechterungen für die gesamte Arbeiterklasse rechtfertigen.

Ihre Methode hat einen Haken: Indem sie jammern, dass ohne die fehlenden Arbeitskräfte ihre Betriebe und das öffentliche Leben nicht laufen, erinnern sie uns an die Macht, die wir in den Händen halten: Denn in der Tat, ohne unsere Arbeit wird keine Schule und keine Brücke gebaut, öffnet kein Supermarkt, wird kein Patient versorgt, produziert keine Fabrik. Gemeinsam, mit allen Arbeitern und allen Berufen, verfügen wir über alles Wissen, alle Fähigkeiten, halten alles am Laufen – und können auch alles anhalten. Gemeinsam sind wir stark.

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