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Nr. 79, Oktober 2015 - Internationales

Der blutige Anschlag von Ankara verurteilt den türkischen Staat

Merkels Besuch in der Türkei am 18. Oktober war schon makaber: Da plaudert sie mit Präsident Erdogan darüber, wie man die Flüchtlinge zwingen könnte, nicht in die EU zu kommen, sondern in der „sicheren“ Türkei zu bleiben... während dort kurz vor den Wahlen ein bürgerkriegsähnliches Klima herrscht.

Erst am 10. Oktober waren über 100 Menschen getötet worden – bei einem Anschlag auf eine Demonstration, zu der Gewerkschaften, linke Organisationen und die prokurdische Partei HDP aufgerufen hatten: Menschen aus der ganzen Türkei waren nach Ankara gekommen, um gegen den Krieg zu demonstrieren, den Erdogan seit drei Monaten gegen die Anhänger der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung PKK wieder entfacht hat. Ganz gezielt also richtete sich dieser Anschlag gegen linke und gegen prokurdische Demonstranten, wie schon die Anschläge in Diyabakir und Suruç.

Mit dem Herzensschrei „Erdogan – Mörder“ gingen in den Tagen nach dem Anschlag spontan in vielen Städten Menschen auf die Straße. Denn alle drei Attentate wurden zwar eindeutig von Aktivisten des „Islamischen Staates“ (IS) verübt. Doch viele vermuten, dass die Regierung von diesen Anschlägen zumindest wusste und sie vielleicht sogar unterstützt hat.
Zwischen den Aktivisten des IS und dem türkischen Staat nämlich bestehen enge Beziehungen. Der türkische Staat hat den IS vielfach unterstützt: Er hat ihm Waffen und Ausbildungscamps zur Verfügung gestellt. Die Türkei ist für den IS ein Rückzugsgebiet, wo sich verwundete Kämpfer aus Syrien erholen können.

Inwieweit die türkische Regierung Komplize der Anschläge war, wird man vielleicht nie erfahren. Sicher aber ist, dass Erdogan den Anschlag von Suruç im Juli als Vorwand genutzt hat, um einen „Krieg gegen den Terror“ zu beginnen: allerdings nicht einen Krieg gegen den IS, der den Anschlag verübt hat, sondern einen Krieg gegen die kurdische PKK-Bewegung. Er hat den Waffenstillstand mit der PKK nach zwei Jahren aufgekündigt und innerhalb von drei Monaten einen bürgerkriegsähnlichen Zustand geschaffen. All das mit der zynischen Hoffnung, dadurch die Neuwahlen am 1. November zu gewinnen.

Bei den Parlamentswahlen im Juni nämlich hat Erdogans Partei AKP die absolute Mehrheit verloren. Erdogan sitzt nicht mehr ganz so fest im Sattel. Die Wirtschaftskrise hat die Türkei eingeholt. Erdogans katastrophale Politik in Syrien und die dreiste Korruption haben ihn ebenfalls Stimmen gekostet. Gleichzeitig bekam die prokurdische Partei HDP mehr als 10% der Stimmen, und zwar nicht nur von Kurden. Dadurch kann die AKP nicht mehr alleine regieren, und einen Koalitionspartner hat sie nicht gefunden.
Für Erdogan geht es also um alles oder nichts: Er hat Neuwahlen ausgerufen und geschworen, diesmal würde die prokurdische HDP verlieren und seine AKP weiter alleine regieren. Und dafür ist ihm jedes Mittel recht.

Im September hat er über mehrere Städte in der kurdischen Region den Ausnahmezustand verhängen lassen. Die Stadt Cizre wurde 9 Tage vom Militär belagert, Strom und Wasser wurden abgeschaltet und auf jeden Greis und jedes Kind, das sich aus der Tür wagte, um Essen oder einen Arzt zu holen, wurde geschossen.
Derselbe Erdogan, der vor 13 Jahren mit dem Slogan angetreten war: „Es gibt keine Türken und Kurden, sondern nur Muslime“, verbreitet jetzt täglich nationalistische Hetze gegen Kurden. Damit versucht er auch, Wähler der rechtsextremen Partei MHP (die grauen Wölfe) für sich zu gewinnen.
Die AKP hat so ein Klima geschaffen, in dem rechtsradikale und islamistische Aktivisten sich ermutigt und aufgefordert fühlen, Jagd auf Kurden und Linke zu machen. Dutzende Büros der HDP und linker Zeitungen wurden angegriffen. In manchen Städten kam es zu regelrechten Pogromen gegen Kurden. Ihre Geschäfte wurden geplündert oder angezündet. Busse wurden von Banden auf offener Straße angehalten, alle kurdischen Insassen herausgezerrt und zusammengeschlagen. In Konya wurden 400 kurdische Bauarbeiter vier Tage lang von rechtsextremen Banden auf der Baustelle gefangen gehalten.

In der Türkei leben viele türkische und kurdische Arbeiter in den Großstädten quasi Tür an Tür, arbeiten in den Betrieben nebeneinander. Dieser nationalistische Terror treibt einen Keil aus Angst und Hass, zieht eine Spur von Blut mitten durch die Arbeiterklasse!

Doch Erdogan hofft, dass durch diese aufgeheizte Stimmung aus Nationalismus und Angst vor Terror die prokurdische HDP verlieren und er gewinnen wird. Und sei es nur, weil Menschen ihn in der irrigen Hoffnung wählen, so die relative Stabilität der letzten Jahre zurückzubekommen.
Ob seine Rechnung aufgehen wird, ist nicht sicher. In jedem Fall aber hat Erdogan bewiesen, dass er zu allem fähig ist, um an der Macht zu bleiben.

Es gibt jedoch nicht nur nationalistische Aktivisten in der Türkei. Es gibt auch die vielen Anderen. Alle diejenigen zum Beispiel, die nach dem Attentat von Ankara auf die Straße gegangen sind. Und auch, auf einer anderen Ebene, die vielen Arbeiter, die an Streiks, insbesondere an der Streikwelle im Frühjahr teilgenommen haben. Dort haben Arbeiter alle zusammen gegen ihre Bosse und die staatsnahe Gewerkschaft gekämpft und haben sich nicht in Türken und Kurden spalten lassen. Und gerade das hat sie stark gemacht.
Auf solchen Bewegungen ruht die Hoffnung. Sie sind der einzige Ausweg aus Nationalismus, Krieg und Terror der Regierung – wie auch immer diese nach dem 1. November aussehen wird.

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