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Nr. 95, März 2017 - Ihre Gesellschaft

Wahlkampf-Auftritte türkischer Minister: Eine Eskalation auf dem Rücken der türkischen Migranten

Seit europäische Regierungen fast alle Wahlkampfveranstaltungen der türkischen Regierung abgesagt haben, haut Erdogan mit Provokationen um sich, spricht von „Nazi-Methoden“. Gleichzeitig hat der holländische Regierungschef Rutte türkische Minister aus dem Land gewiesen und Polizeihunde auf Unterstützer Erdogans gehetzt, um damit die Stimmen der Rechtsextremen zu gewinnen – was ihm gelungen ist. Und diese Eskalation ist noch nicht zu Ende.

Erdogan braucht sie für sein Referendum am 16. April. Denn alle Umfragen kommen zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit bislang gegen die Einführung seines „Präsidialsystems“ ist. Selbst unter den Wählern von Erdogans Partei AKP scheinen nicht wenige zu zögern, für ein System zu stimmen, das dem Präsidenten (Erdogan) enorme Macht verleiht: Er könnte dann ganz alleine mit Hilfe von Dekreten regieren, alleine über den Haushalt entscheiden, alleine die Minister, hohen Staatsbeamten und die Hälfte des Verfassungsgerichts ernennen sowie den Notstand ausrufen. Er wäre außerdem oberster Befehlshaber der Armee und der Geheimdienste.

Schon heute nutzt Erdogan den Ausnahmezustand, der nach dem Militärputsch verhängt wurde, um politische Gegner mundtot zu machen. Menschen werden einfach zu „Terroristen“ erklärt und im Namen des Kampfes gegen den Terror verfolgt. In 8 Monaten wurden mehr als 120.000 Beamte entlassen und 71.000 verhaftet. Tausende sind noch immer im Gefängnis, darunter einfache Lehrer und städtische Beamte; ebenso 151 Journalisten. Das neue Präsidialsystem soll Erdogan dabei helfen, seine Quasi-Diktatur weiter zu verstärken.

Mangels inhaltlicher Argumente für sein Präsidialsystem schürt er jeden Tag Angst: Wer gegen das Präsidialsystem stimme, würde die „Terroristen“ (für ihn die kurdische PKK und die Gülen-Bewegung) unterstützen. Wenn Erdogan verliere, käme es zum Bürgerkrieg.

Nur ist sich Erdogan nicht mehr sicher, dass er das Referendum gewinnt. Er hat zwar weiterhin viel Unterstützung. Viele verbinden ihn noch immer mit den 10 Jahren Wirtschaftsaufschwung, die die Türkei in seiner Amtszeit erlebte und die eine gewisse Stabilität und einige soziale Reformen brachten. Doch die wirtschaftliche Krise verschärft sich. Vor allem der Absturz der türkischen Lira führt dazu, dass die Kaufkraft einbricht, Arbeiterfamilien in Armut fallen und massenhaft kleine Ladenbesitzer und Händler Bankrott gehen, darunter viele, die gestern noch hundertprozentige Anhänger von Erdogan waren.
Umso wichtiger sind für Erdogan die türkischen Wähler in Europa geworden, deren Stimmen das Zünglein an der Waage werden könnten. Auch daher sein aggressiver Wahlkampf hier.

In Deutschland leben 1,4 Millionen Menschen, die bei der Wahl in der Türkei abstimmen können. Viele von ihnen dürfen im September nicht bei der Bundestagswahl abstimmen, dafür aber jetzt in der Türkei. Es ist nicht nur normal, sondern richtig, dass sie sich Gedanken machen und offen diskutieren, was sie wählen sollen und welche Auswirkungen die Wahl für ihre Familienangehörigen und überhaupt für alle Menschen in der Türkei hat. Der Wahlkampf gehört damit auch hierher.

Mit dem Verbot der Wahlkampfauftritte hingegen haben die deutschen Politiker nur Erdogan genutzt. Die abgesagten Auftritte haben wesentlich mehr Aufmerksamkeit erregt, als wenn sie stattgefunden hätten, mit ihren je 300 bis 600 Teilnehmern. Erdogan kann sich jetzt als Opfer darstellen, den die mächtigen Staaten am Reden zu hindern versuchen.
Auch die verächtliche Art und Weise, wie die türkischen Minister jedes Mal in letzter Sekunde ausgeladen wurden – unter so offensichtlich verlogenen Vorwänden wie „zu wenig Parkplätzen am Versammlungsort“ – hat verständlicherweise viele empört Ebenso, dass die deutschen Politiker dabei so tun, als gelte ihre ganze Sorge der Verteidigung der Demokratie.

Doch um Demokratie geht es der deutschen Regierung und der EU bei ihrem ganzen Handeln nicht. Ihr Problem ist ein ganz anderes. Einerseits möchten sie Erdogan weiterhin als Wachhund benutzen, der mit Gewalt die Flüchtlinge an der Überfahrt nach Europa hindert. Mehr noch brauchen sie die türkische Regierung als stabilen Verbündeten und Stützpunkt an der Grenze zu Syrien und dem Irak, die im Chaos von Krieg und Terror versinken. Sie wollen daher ein möglichst gutes Verhältnis zu Erdogan behalten – egal, wie diktatorisch er über seine Bevölkerung regiert.

Andererseits stört sie, dass Erdogan um seine Bedeutung weiß und sich entsprechend provokative Äußerungen oder auch die Festnahme des deutsch-türkischen Journalisten Yücel erlaubt. Und dafür wollen sie ihn zurechtweisen.

Hinzu kommt, dass Wahlkampf ist und vor allem die CDU mit der AfD konkurrieren muss. Und die fordert eine harte Haltung gegenüber der Türkei. Nicht, weil Erdogans Diktatur sie stören würde, sondern weil sie die Gelegenheit nutzt, um Stimmung für ihre migrantenfeindliche Politik zu machen, indem sie ein Verbot aller Wahlkampfveranstaltungen fordert – mit der Begründung, dass die Anliegen türkischer Migranten, die seit Jahrzehnten hier malochen und Steuern zahlen, „nicht zu Deutschland gehören“ würden. Daher auch die lautstarke Ankündigung der CDU-Ministerpräsidentin im Saarland (wo in einer Woche Landtagswahlen stattfinden), sie wolle türkische Wahlkampfveranstaltungen verbieten... obwohl gar keine Auftritte im Saarland geplant waren.

Das alles ist der Grund für den Eiertanz der Bundesregierung: Der Grund, warum sie einerseits offiziell die Wahlkampfveranstaltungen bislang nicht verbietet, die Städte sie aber dann doch unter irgendeinem „unpolitischen“ Vorwand wie „Brandschutz“ untersagen.

Diese Haltung der deutschen Regierung, und mehr noch die provokante Haltung der niederländischen Regierung haben es Erdogan zynischerweise ermöglicht, sich als Verteidiger der Demokratie und Redefreiheit sowie der Rechte und Würde türkischer Politiker hinzustellen. Und im schlimmsten Fall hilft ihm diese Eskalation sogar, sein Referendum doch noch zu gewinnen.
In Deutschland droht sie vor allem, Abneigung und Misstrauen zwischen den Arbeitern verschiedener Herkunft zu schüren. Das dürfen wir nicht zulassen!

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