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Nr. 135, September 2020 - Internationales

Weißrussland: Eine wichtige Lehre für die arbeitende Klasse

Noch immer gehen in Weißrussland an den Wochenenden Zehntausende auf die Straße – trotz der Einschüchterungen und der Repression seitens der Regierung. Empört über den offensichtlichen Wahlbetrug, verlangen sie den Rücktritt des Präsidenten Lukaschenko, der seit 26 Jahren an der Macht ist.

Das Prägendste der Bewegung war das plötzliche Eingreifen der Arbeiterklasse. Aus Solidarität mit den Protestierenden und aus Empörung über die brutale Gewalt, mit der der Präsident gegen sie vorging, traten sie in den Streik, in der Autoindustrie, der Chemie, den Bergwerken, der Bauwirtschaft. Arbeiter aus großen Betrieben mit 10-20.000 Arbeitern (ein Erbe der Sowjetzeit) traten auf den Demonstrationen mit beeindruckenden Blöcken auf, stimmten auf Vollversammlungen über den Streik ab und wählten zum Teil ihre eigenen Streikkomitees.

Diese streikenden Arbeiter, die ganze Teile der Wirtschaft lahmlegten und eine organisierte Kraft darstellten, stellten eine viel größere Macht und damit eine viel größere Gefahr für die Regierung dar als die vorherigen Demonstrationen. Entsprechend hat auch Präsident Lukaschenko seine ganze Kraft zunächst gegen die Streiks gerichtet: Die Streikleitungen wurden entlassen, die aktivsten Streikenden verhaftet, manche gefoltert. Dutzende Streikende wurden entführt und tot wieder aufgefunden.

All dies hat dazu beigetragen, einen Teil der Arbeiter einzuschüchtern. Doch dass die Streikwelle nach und nach wieder abgeebbte, hat auch eine tieferliegende, soziale Ursache: nämlich, dass die Arbeitenden sich in der politischen Opposition, die bei den Wahlen gegen Lukaschenko kandidiert hatte und seitdem die Protestbewegung anführt, weder sozial noch politisch wiederfinden können.

Diese politische Opposition besteht aus Diplomaten, Juristen, Besitzern von Start Up-Unternehmen... aus bessergestellten Kleinbürgern, deren Hauptanliegen eine noch „marktwirtschaftlichere“ Ausrichtung der Wirtschaft ist, von der sich das Kleinbürgertum einen sozialen Aufstieg verspricht. Die Arbeiter hingegen fühlen, dass sie der große Verlierer einer solchen Entwicklung wären. Und dies dämpft die Lust, für eine solche Perspektive seinen Arbeitsplatz und seine Haut zu riskieren.

Auch wenn die politische Opposition über Lukaschenko siegen sollte: Mit ihr würde sich bestenfalls die Fassade ändern. Hinter der Fassade würde die alte Ausbeutung, wahrscheinlich noch schlimmer, weitergehen. Eine grundlegendere Änderung der Verhältnisse kann nur die Arbeiterklasse erkämpfen, die als einzige sowohl die gesellschaftliche Kraft als auch ein soziales Interesse an einer grundlegenderen Veränderung der Gesellschaft hat.
Doch dafür ist es notwendig, dass die Arbeiterklasse mit ihrem eigenen politischen Programm in die Geschehnisse eingreift, als vom Bürgertum unabhängige gesellschaftliche Kraft. Eben deshalb ist es so wichtig, wieder Arbeiterparteien aufzubauen, die ein solches Programm und eine unabhängige Organisierung der Arbeitenden verteidigen.

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