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Nr. 103, Dezember 2017 - Leitartikel

Unsere Wut braucht eine Perspektive, keine Sackgassen

In Altena im Sauerland greift ein Mann den Bürgermeister mit einem Messer an. Der 56jährige arbeitslose Maurer begründet seine Tat politisch: Der Bürgermeister helfe den Flüchtlingen und nicht Leuten wie ihm, dessen Haus zwangsversteigert wird und dem man das Wasser abgedreht hat. Eine Woche später versucht ein 37jähriger Arbeitsloser, einen Beschäftigten des Jobcenters umzubringen, nachdem man ihm das wenige HartzIV gekürzt hat.

Beide Ereignisse sind einerseits Einzelfälle. Doch gleichzeitig sind sie ein beunruhigendes Symptom einer tiefergehenden Entwicklung. Beide Männer gehören zu der wachsenden Zahl derer, die Arbeitslosigkeit, Verschuldung und die Schikanen des HartzIV-Systems in die Verzweiflung treibt. Sie haben die Wut im Bauch. Doch sie richten die Wut nicht gegen die Verursacher dieser Zustände, sondern gegen andere Arbeiter oder gegen noch Ärmere als sie selber.

Nicht die Beschäftigten im Jobcenter haben sich das perfide bürokratische System ausgedacht, das Arbeiter, die ihren Job verloren haben, gezielt erniedrigt und zur Verzweiflung treibt: Damit sie jede Arbeit annehmen, egal wie schlecht bezahlt und unsicher sie ist. Das haben die Regierungen getan, um den Kapitalisten in ihrem Krieg gegen die Arbeiter zu helfen. Die Arbeitenden im Jobcenter sind selber Opfer davon, sind teils selber befristet und haben HartzIV erlebt.

Nicht die Flüchtlinge sind schuld, dass die Konzerne ständig Arbeiter in die Arbeitslosigkeit stoßen. Und dass niemand hilft, wenn die Banken Arbeiter und Rentner mit Krediten erdrosseln, sie ihre Wohnung verlieren oder E.ON ihnen den Strom abstellt. Im Gegenteil, die Flüchtlinge sind selber Opfer dieses Systems. Erst hat der Krieg der Großmächte ihnen in ihrer Heimat alles genommen: Arbeit, Wohnung, zum Teil das Leben ihrer Familie. Und nun gehören sie hier zu den vielen Arbeitern, die hin und her gestoßen werden zwischen schlecht bezahlten Jobs, Tagelöhnerarbeiten und den Schikanen der Ämter.

Doch die Idee, die Flüchtlinge wären für die Existenzsorgen der übrigen Bevölkerung verantwortlich, wird gezielt verbreitet. In ekeligster Form von der AfD, die mit ihrer Hetze Verzweifelte regelrecht bewaffnet. Doch auch CDU und SPD reden dauernd von den „Problemen“ und „Kosten“ der Flüchtlinge.

Keiner dieser Politiker fragt je, wie viel zig Milliarden der Staat für E.ON oder VW ausgibt, für Subventionen, Steuergeschenke und die Beseitigung ihrer Umweltskandale. Oder redet ständig von den 8 Milliarden, die allein der neue Stuttgarter Bahnhof kostet. Und keiner redet von den tiefgreifenden Problemen, die Siemens, General Electrics, Thyssen oder die Deutsche Bank verursachen, indem sie trotz Milliardengewinnen tausende Arbeiter entlassen.

AfD, CDU, SPD, alle schützen die Kapitalisten, die auf dem Rücken der Arbeiter und der ganzen Welt unfassbare Reichtümer aufhäufen − indem sie die Wut über die Folgen davon auf Teile der einfachen Bevölkerung lenken. Und egal, wenn dadurch am Ende vielleicht Arbeiter auf andere Arbeiter losgehen!

Wenn die arbeitende Klasse aus diesem bedrohlichen Schlamassel rauskommen will, muss sie ihre Wut gegen die wahren Verursacher richten. Nur wenn die Arbeiter, ob mit oder ohne Arbeitsplatz, ob noch im Berufsleben oder Rentner, ob Deutsche oder Migranten, zusammenhalten, sind sie stark genug, um ihre Interessen gegen diejenigen durchzusetzen, die ihre Existenz bedrohen: die kapitalistische Klasse. Und es braucht wieder eine politische Kraft, die in den Betrieben, den Stadtteilen, ja überall diese Perspektiven vertritt.
Vor langer Zeit hat die SPD diese Rolle gespielt. Doch sie hat längst die Seite gewechselt. Seit vielen Jahrzehnten macht sie Politik für die Unternehmer. Sie versucht zwar immer noch so zu tun, als könnte sie gleichzeitig die Interessen der Unternehmer UND der Arbeiter vertreten. Nur gelingt der SPD diese Täuschung immer weniger, weshalb sie auch immer mehr Stimmen verliert.

Auch in den jetzigen Regierungsverhandlungen wird die SPD wieder so tun, als wolle sie auch „soziale“ Forderungen für die Arbeiter durchsetzen. Nichts als leere Worthülsen! Die kapitalistische Klasse verlangt eine Politik, die sie immer reicher macht… indem sie immer mehr Arbeitende niederdrückt. Und sollte die SPD doch wieder in die Regierung gehen, wird sie genau diese Politik fortsetzen. Auch wenn sie damit noch mehr Wähler und Mitglieder verliert.

Selbst die in der SPD, die heute gegen eine Regierungsbeteiligung sind, haben im Grunde keine andere Perspektive. Sie hoffen, ein paar Jahre Opposition könnten kurzzeitig die Illusion zurückbringen, die SPD stünde „auf Seiten der kleinen Leute“. Aber nur, um so bei der nächsten Wahl wieder mehr Stimmen zu bekommen… und dann wieder genau dieselbe Politik zu machen wie heute!

An dem Dilemma der SPD zeigt sich, in was für eine Sackgasse ihre Politik führt. Eine Sackgasse, in die sie viele Arbeiter mit hineingezogen hat, die ihr vertraut hatten. Die SPD hat damit einen großen Anteil an der heutigen Verbitterung und politischen Orientierungslosigkeit.
Einen Ausweg kann nur eine politische Strömung bieten, die zu 100 Prozent auf Seiten der Arbeiter steht und ihnen hilft, sich darauf vorzubereiten, den Kampf gegen die kapitalistische Klasse wieder aufzunehmen und ihr letztlich die Macht streitig zu machen. Dass eine solche Strömung wieder entsteht, wird für unsere Zukunft entscheidend sein.

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