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Nr. 134, August 2020 - Internationales

Libanon: Der Rücktritt der Regierung wird die Wut nicht dämpfen

Seit der fürchterlichen Explosion, die am 4. August die libanesische Hauptstadt in Schutt und Asche gelegt und über 170 Menschen getötet hat, haben sich Tag für Tag tausende Demonstranten versammelt und ihre Wut auf die Regierung mit den Rufen „Hängt sie alle auf“ sehr deutlich gemacht. Ihre Entschlossenheit hat die Regierung am 10. August zum Rücktritt gezwungen.

Der Hass der Bevölkerung auf die korrupte politische Kaste war schon vorher groß. Doch die Verachtung und Verantwortungslosigkeit der Herrschenden, die sich in der mörderischen Explosion offenbarte, hat alles auf die Spitze getrieben.
Die 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, die explodierten, lagerten bereits seit über sechs Jahren ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen im Hafengebiet – ganz in der Nähe von Wohnhäusern. Immer wieder hatten Beschäftigte und Verantwortliche vor der Gefahr gewarnt. Doch alle Zuständigen im Staatsapparat haben die zahlreichen Warnungen schlicht ignoriert.

Der Rücktritt der Regierung allein wird die Proteste allerdings sicher nicht beenden, die bereits seit Oktober 2019 andauern und sich gegen das ganze verhasste politische System richten. Es ist ein System, das in seinen Grundzügen noch aus der Kolonialzeit stammt. Um das Land besser beherrschen zu können, hatte die Kolonialmacht Frankreich das ganze System nach Religionszugehörigkeit organisiert. Jede politische Partei musste einer Religion (einer der verschiedenen christlichen oder muslimischen Strömungen) angehören. Bis heute hat jede Religion einen bestimmten Anteil an Sitzen im Parlament, und jede Partei vertritt angeblich die Interessen einer bestimmten Religionsgemeinschaft.
Doch in Wahrheit vertritt jede Partei einzig die Interessen einer bestimmten Fraktion der kapitalistischen Klasse. Über ihre Parteien plündern diese verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie die Staatskasse, was ihnen neben der direkten Ausbeutung der Arbeiter eine weitere Einnahmequelle verschafft.

Dieses politische System dient nicht nur der einheimischen Bourgeoisie und ihren politischen Lakaien, denen es einträgliche Posten im Staatsapparat verschafft. Es stellt auch sicher, dass der Libanon dauerhaft ein halbkoloniales Land bleibt, das den verschiedenen Weltmächten und Regionalmächten als Stützpunkt dient – all den mächtigen Staaten, die in der Region (im Nahen Osten) aktiv sind und sich deren zahlreiche Rohstoffe unter den Nagel reißen.
Lange Zeit hat das in den 1950er Jahren eingeführte verschärfte Bankgeheimnis dem Land außerdem den Spitznamen „die Schweiz des Nahen Ostens“ eingebracht. Es bot dem Kapital, das durch die Ausbeutung der Arbeiter der Region angehäuft wurde, einen sicheren Hafen.

Nach dem Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 hat die libanesische Zentralbank außerdem hohe Zinsen für ihre Staatsanleihen gezahlt und damit ihren Gläubigern – libanesischen wie ausländischen Investoren – goldene Zeiten beschert. Doch dadurch wurde die Staatskasse weiter geplündert, und so ist der libanesische Staat jetzt zahlungsunfähig. Die herrschende Klasse konnte ihre angehäuften Milliarden mit Unterstützung der internationalen Banken vorher ins Ausland bringen. Der einfachen Bevölkerung hingegen wird nun die Rechnung präsentiert: Der Kurs der libanesischen Währung ist abgestürzt, was in kurzer Zeit zu einer brutalen Verarmung der Mehrheit der Bevölkerung geführt hat.

Von den Regierungen der imperialistischen Staaten ist jedenfalls keine Hilfe zu erwarten, auch wenn sie sich – allen voran Frankreich, aber auch Deutschland – derzeit damit brüsten. Das Gegenteil ist der Fall: Das bisherige System im Libanon hat sich für die imperialistischen Großmächte als so kostbar erwiesen, dass sie es um jeden Preis erhalten wollen. Wenn sie also heute angesichts der Massenproteste der Bevölkerung von einer „notwendigen Reform des politischen Systems“ reden, dann geht es einzig darum, der Fassade des Regimes einen neuen Anstrich zu verpassen, während alles andere beim Alten bleibt. Auch der fünfzehnjährige Bürgerkrieg, der hunderttausende Tote forderte und zu einer unfassbaren Zerstörung führte, ist nicht anders geendet.

Und was die 253 Millionen Euro angeht, die auf der Internationalen Geberkonferenz zur Unterstützung Beiruts angekündigt wurden: Wenn dieses Geld überhaupt gezahlt wird, dann kann man sicher sein, dass die einfache Bevölkerung kaum etwas davon sehen wird. Der Großteil wird in den Taschen der internationalen Baukonzerne verschwinden. In jedem Fall sind diese Hilfsgelder nur ein Bruchteil der 2,3 Milliarden Euro, die Saudi-Arabien 2014 der libanesischen Armee geschenkt hat, damit diese von französischen Rüstungskonzernen Waffen kaufen kann. Die Truppen der Armee, die die Regierung in den letzten Tagen zur Unterdrückung der Demonstrationen eingesetzt hat, haben jedenfalls gezeigt, wozu diese tolle militärische Ausrüstung genutzt werden kann – in einem Land, in dem es in den anderen Teilen des Öffentlichen Dienstes am Nötigsten fehlt.

Einige Staatschefs sowie Teile der sogenannten libanesischen Zivilgesellschaft fordern außerdem, dass statt einer neuen Regierung aus den üblichen, alten Parteien eine „Technokraten-Regierung“ eingesetzt wird (also eine Regierung von parteilosen „Spezialisten“ aus Finanzwelt und Konzernen). Doch eine solche Regierung würde die Interessen der Arbeitenden nicht einen Deut mehr vertreten, im Gegenteil. Denn eine solche Regierung würde noch stärker und direkter den Interessen der imperialistischen Großmächte und ihrer Banken dienen: Und die fordern, dass der Libanon um jeden Preis seine Staatsschulden bezahlen muss, selbst wenn dies die Bevölkerung noch weiter ins Elend treibt.

Die arme Bevölkerung und die Arbeitenden im Libanon können nur auf ihre eigenen Kräfte und die Solidarität der Arbeiter in ihrer Region und der Welt zählen, um sich das Geld zurückzuholen, das ihnen gestohlen wurde, um selber die Kontrolle über die Wirtschaft zu übernehmen und diese wirklich in den Dienst der Bevölkerung zu stellen.

(nach einem Artikel unserer französischen Genossen von Lutte Ouvrière vom 14.8.2020.)

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