Startseite > Das Rote Tuch > 86 > Die EU sieht Erdogans Verbrechen nur dann, wenn sie es braucht

Nr. 86, Mai 2016 - Internationales

Die EU sieht Erdogans Verbrechen nur dann, wenn sie es braucht

Erdogans Regierung in der Türkei geht immer offener zur Diktatur über. Die jetzige Drohung, fast alle der 59 Abgeordneten der kurdischen Oppositionspartei HDP vor Gericht zu stellen und sie vielleicht ins Gefängnis zu sperren, ist „nur“ die Spitze des Eisberges.
Täglich gibt es Verhaftungen, werden politische Gegner terrorisiert, Gewerkschafter, Arbeiter, die sich wehren… Ganz zu schweigen von dem Terror, den Erdogan in den kurdischen Regionen verübt, wo er ganze Städte von der Armee abriegeln, belagern und beschießen lässt.

Diese immer diktatorischeren Maßnahmen sind Erdogans Mittel, um trotz wachsender wirtschaftlicher Probleme, Inflation und politischer Krisen die sichere Macht im Land zu behalten. Und die internationale Lage hilft ihm.

Während die Nachbarländer der Türkei, Syrien und Irak, im Bürgerkrieg versinken und ein Land nach dem anderen in Krisen und Krieg zerfällt, brauchen die westlichen, imperia-listischen Mächte ihren langjährigen Verbündeten Türkei, um in der Region weiter ihre Machtinteressen durchzu-setzen. So sehr, dass sie nicht einmal etwas dazu sagen, dass Erdogan im Irak und in Syrien mehr die Kurden bombardiert als den IS. Erdogan weiß daher, dass er freie Hand hat, um im eigenen Land seine Macht auszubauen.

Mitten in dieser Lage haben die Staatschefs der EU das schändliche Abkommen mit der Türkei geschlossen, bei dem sie die Türkei dafür bezahlen, dass alle Flüchtlinge, die über Griechenland in die EU fliehen wollten, in die Türkei zurückgebracht werden. Dass man damit syrische Frauen und afghanische Kinder in die Hände dieses Diktators schiebt, der mit ihnen macht, was er will – das hat die EU-Staatschefs nicht gestört.

Im Gegenteil, zu Beginn dieses Abkom-mens entdeckte vor allem die deutsche Regierung auf einmal bei Erdogan Tugenden der Demokratie und Men-schenfreundlichkeit. Ja, um ihm einen Gefallen zu tun, beschloss sie sogar, den Satiriker Böhmermann wegen „Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes“ zu verfolgen.
Doch nur eine einzige, echte Gegenleistung wurde der Türkei dafür versprochen, wenn sie jetzt sofort alle Flüchtlinge aufnimmt: Dass in naher Zukunft türkische Staatsbürger kein aufwändiges Visum mehr brauchen, wenn sie in ein Land der EU reisen wollen. Was nicht nur für die türkische Wirtschaft, sondern auch für viele Familien eine echte Erleichterung wäre.

Heute ist es jedes Mal ein bürokratischer Aufwand, nur wenn die Oma aus der Türkei ihre Familie in Deutschland besuchen will… während ein Deutscher, der in die Türkei in Urlaub fahren will, einfach nur einen Reisepass braucht. Für EU-Bürger, die in die Türkei wollen, gilt die Visafreiheit nämlich schon lange.

Doch seit sich die Türkei um alle Flüchtlinge „gekümmert“ hat und nur noch wenige Flüchtlinge versuchen, über die Türkei nach Europa zu fliehen, hat der Mohr seine Schuldigkeit getan. Und auf einmal entdecken EU-Politiker Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, über die sie noch vor einem Monat nicht gesprochen haben.

Oh, nicht etwa, weil sie sich jetzt mehr für die Bevölkerung in der Türkei interessieren würden. Nein, die Kritik an Erdogans diktatorischen Maßnahmen ist für die EU-Chefs nur eine Gelegenheit, um die Visafreiheit wieder in Frage zu stellen und Erdogan so zu signalisieren: „Glaub nicht, dass du das Recht hast, gegenüber den EU-Staaten irgendwelche Ansprüche zu stellen, nur weil du uns ein Problem vom Hals geschafft hast. Sonst könnten wir uns das mit der Visafreiheit nochmal überlegen.“

Ja, ärmere, wirtschaftlich abhängige Staaten wie die Türkei dürfen zwar für die imperialistischen Mächte die Drecksarbeit erledigen. Doch sie sollen nicht glauben, dass sie deshalb gleichwertige Partner werden oder gar Ansprüche stellen könnten. Und das wollen die EU-Chefs dem türkischen Staat jetzt deutlich machen.

Eines jedenfalls ist sicher. Wie auch immer diese Machtspiele zwischen den imperialistischen EU-Staaten und der Türkei weitergehen: Die Probleme und Interessen der türkischen Bevölkerung spielen dabei auch weiterhin keine Rolle – ebenso wenig wie die der Flüchtlinge.

Das Rote Tuch
Archiv