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Nr. 112, Oktober 2018 - Internationales

Die Bevölkerung in der Türkei – Opfer einer kranken Weltwirtschaft

Die Lage der türkischen Bevölkerung wird immer schlimmer. Eine massive Inflation und eine schwere Wirtschaftskrise erschüttern das Land. Die Verbraucherpreise sind laut der türkischen Regierung seit Anfang des Jahres um 26% gestiegen, viele lebenswichtige Güter sind sogar 40% teurer geworden. Man kann sich kaum vorstellen, was das für eine Arbeiterfamilie bedeutet.
Familien, die vorher mit dem Mindestlohn irgendwie über die Runden kamen, gehen jetzt manchmal hungrig ins Bett. In Körfez (nicht weit von Istanbul) hat sich ein Arbeiter erschossen, weil er das Geld für die Schuluniform nicht aufbringen konnte, und sein Sohn deshalb nicht in die Oberstufe durfte.

Die Menschen können immer weniger kaufen. Allein die Nachfrage an Autos ist diesen September im Vergleich zum Vorjahr um 67% gesunken. Zahllose kleinere Betriebe und Geschäfte gehen Pleite, in den Großbetrieben gibt es Massenentlassungen. Jeden Tag verlieren Hunderte, manchmal Tausende ihre Arbeit.
Und als würde das nicht reichen, sind viele Familien außerdem verschuldet und wissen nun nicht mehr, wie sie die Raten noch aufbringen sollen. In Malatya hat ein Mann aus Verzweiflung versucht, sich vor seiner Bank selbst anzuzünden, nachdem diese ihm keinen Aufschub bei der Ratenzahlung gewähren wollte.

Über Jahre waren die Wirtschaft, die Löhne und Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung stabil. Nun stürzt alles in kürzester Zeit wie ein Kartenhaus zusammen!
Und nicht nur in der Türkei entwickelt es sich derzeit so. Argentinien, Brasilien, Südafrika, sie alle erleben Ähnliches, und alle aus demselben Grund: Sie sind Opfer der irrsinnigen Bewegungen der weltweiten Spekulation.

Da es in den USA und Europa quasi keine Zinsen gab, haben die großen internationalen Banken viel Geld in die Schwellenländer „investiert“, wo sie höhere Zinsen kassieren konnten. Zu diesen Ländern gehört auch die Türkei.
Die Banken haben Privatleuten Kredite angeboten, mit denen sie sich eine Wohnung oder ein Auto kaufen konnten. Sie haben Firmen Kredite angeboten, um ihr Geschäft zu erweitern. Und vor allem haben sie den türkischen Banken Geld geliehen, und auch dem Staat. Diese Kredite haben Erdogan nicht zuletzt geholfen, die neuen Zugstrecken, den neuen Großflughafen, aber auch die Militäreinsätze in den kurdischen Gebieten der Türkei und Syriens zu finanzieren.
Eine Zeit lang wurde die Wirtschaft durch die Kredite etwas angekurbelt. Neue Betriebe entstanden, es gab viele Staatsaufträge, es gab viele neue Arbeitsplätze und bessere Löhne. Den mit Abstand meisten Reibach allerdings haben die Spekulanten gemacht, die die Zinsen für die Kredite kassiert und auf den Aufschwung und eine starke türkische Währung spekuliert haben.

Seit einiger Zeit jedoch wird die wirtschaftliche Lage schlechter. Schon seit zwei Jahren haben daher Spekulanten angefangen, ihr Geld wieder aus der Türkei abzuziehen. Die Drohung von US-Präsident Trump, einen Handelskrieg gegen die Türkei zu beginnen, hat das Ganze noch mal drastisch beschleunigt. Den Spekulanten wurde die Türkei zu unsicher, sie haben ihre Kredite und ihre Anlagen in türkischen Lira verkauft und ihr Geld lieber wieder in den sicheren USA angelegt… mit der Folge, dass die Lira um 40% an Wert gegenüber dem Dollar verloren hat.

Genauso ist es den anderen Schwellenländern ergangen. Überall hat die aggressive Handelspolitik der USA und die sich eintrübende Wirtschaftslage dazu geführt, dass die Spekulanten ihr Geld in Sicherheit bringen. Überall ist daraufhin die Währung abgestürzt: In Argentinien um 50%, in Brasilien um 30%, in Südafrika um 25%...
In den deutschen Medien wird Erdogan oft als alleiniger Verursacher der Krise in der Türkei dargestellt. Sicher hat seine unberechenbare und diktatorische Politik dazu beigetragen. Und je heftiger die Krise wird, desto brutaler und diktatorischer wird er wiederum, um sich trotz der wachsenden Unzufriedenheit weiter an der Macht zu halten.
Nur über Erdogan zu sprechen ist jedoch auch eine Methode, um nicht über die Verantwortung ihres kranken Weltwirtschaftssystems sprechen zu müssen. Nicht darüber, dass die reichen Spekulanten wie Heuschrecken über Länder herfallen, das Beste herausziehen, Zinsen kassieren… und dann, wenn es für sie nichts mehr zu holen gibt, ihr Geld wieder abziehen und nur Krisen und Katastrophen hinterlassen!

Die türkischen Firmen, Banken und der Staat müssen ihre Raten an die ausländischen Banken außerdem in Dollar oder Euro zahlen. Da die türkische Lira 40% an Wert verloren hat, heißt das, dass sie 40% mehr Geld auftreiben müssen, um die gleichen Raten zu zahlen. Das kann niemand auf Dauer schaffen!

Der türkische Staat wird daher höchstwahrscheinlich den Internationalen Währungsfond (IWF) um Hilfe bitten müssen. Doch der verlangt für seine „Hilfe“ immer drastische Einsparungen bei allen sozialen Programmen, bei der Rente, im Gesundheitswesen – und außerdem die Privatisierung von öffentlichen Diensten wie Wasser oder Strom. Der IWF wird der türkischen Bevölkerung nicht helfen, sondern sie noch mehr in die Armut stoßen.

In Argentinien sieht es nicht anders aus. Und wer weiß, welche Auswirkungen die Krise der Schwellenländer noch haben wird! Schließlich hat einzig die wachsende Nachfrage der Schwellenländer inklusive Chinas die schwächelnde Weltwirtschaft in den letzten Jahren ein bisschen in Schwung gehalten. Ihr Absturz, gepaart mit dem Handelskrieg zwischen den USA, China und der EU, kann sehr gut weltweit die Krise massiv verschlimmern.
Es ist wirklich Zeit, diesem kranken und unbeherrschbaren Weltwirtschaftssystem ein Ende zu setzen!

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