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Nr. 124, November 2019 - Internationales

Irak: Massenproteste gegen Armut, Korruption und die religiösen Parteien

Seit bald zwei Monaten gehen Hunderttausende vor allem junge Menschen im Irak auf die Straße. Mutig stellen sie sich den Machthabern entgegen und verlangen Arbeit, würdige Lebensbedingungen, das Ende der Korruption und den Rücktritt der Regierung und aller korrupten Politiker. Nach all den Jahren des Krieges und des Lebens in einem zerstörten Land brechen sich in den Protesten die sozialen Forderungen der Bevölkerung und ihr Wunsch nach einem würdigen Leben Bahn.
Die Regierung reagiert mit brutaler Gewalt. Sie hat bereits über 300 getötet und 15.000 verletzt. Doch es gelingt ihr nicht, die Massenproteste einzudämmen. Viele können und wollen die jetzigen Zustände einfach nicht mehr ertragen. „Wir haben keinen Öffentlichen Dienst mehr, keine Krankenhäuser. Die Schulen sind in erbärmlichem Zustand, alles wird immer schlimmer. 90% der Leute haben hier keine wirkliche Arbeit“, klagt ein Arbeiter aus den Arbeitervororten Bagdads das Regime an.
Die Arbeitslosigkeit trifft ganz besonders junge Leute, die gegen den Islamischen Staat gekämpft haben und die sich nun ohne Arbeit und Zukunft auf der Straße wiederfinden.

Die Wut richtet sich insbesondere gegen die unerträgliche Korruption auf allen Ebenen des Staates, angefangen bei der Regierung und den religiösen Parteien unterschiedlichster Glaubensrichtungen, die sie unterstützen. Selbst nach offiziellen Angaben haben die korrupten Politiker 410 Milliarden Dollar an staatlichen Geldern abgezweigt und auf ihre Privatkonten geschafft, seit das Regime 2003 von den USA installiert wurde.

Damals hatten die USA den Irak nach einem zerstörerischen Krieg besetzt. Um das Land besser unter Kontrolle zu halten, führten sie eine neue Verfassung ein, in der sie den Irak nach religiöser und ethnischer Zugehörigkeit ordneten. Sie teilten den Irak in eine schiitische, eine sunnitische und eine kurdische Zone und zwangen jede Bevölkerungsgruppe, eigene Parteien zu gründen. Vorher hatte es nur irakische Parteien gegeben, jetzt gab es dank den USA auf einmal sunnitische, schiitische und kurdische Parteien, die alle korrupt waren – und alle außerdem ihre eigenen bewaffneten Milizen gründeten.

Diese Milizen fanden in dem völlig ausgebeuteten, zerrütteten und gespaltenen Land einen idealen Nährboden. Sie wurden immer stärker, terrorisierten die Bevölkerung und bekriegten sich gegenseitig – insbesondere weil viele dieser Milizen von unterschiedlichen Großmächten bewaffnet und unterstützt werden, die sich um den Einfluss im Irak streiten: allen voran die USA und der Iran. Die vom Iran zur Bekämpfung des IS gegründeten Milizen sind derzeit besonders stark und beherrschen vielerorts das Leben der Menschen.

Während der Imperialismus dafür gesorgt hat, dass das Land von konkurrierenden religiösen Milizen beherrscht wird, setzen sich die Massenproteste über alle diese Spaltungen hinweg. Die Demonstrationen richten sich gegen die Machthaber, Parteien und Milizen jeder religiösen Richtung. Denn hinter ihrem religiösen Etikett sind sie überall gleich – und ebenso die Lebenssituation der Bevölkerung. „Im Namen der Religion plündern uns die Diebe aus!“, rufen sie in den Demonstrationen.
Ein 22-jähriger Student erklärt: „Wir finden keine Arbeit, wenn wir nicht einer Partei beitreten. Wir haben die Nase voll vom Rassismus, von der Spaltung nach Religionszugehörigkeit. Wir wollen einfach Iraker sein und von kompetenten Leuten regiert werden.“

Gerade das aber ist der springende, alles entscheidende Punkt: Der ständige Kriegszustand und das daraus resultierende Elend lassen sich nicht durch einen einfachen Regierungswechsel beenden. Denn neben den Herrschern vor Ort sind hierfür auch und vor allem die Herrschenden der imperialistischen Staaten verantwortlich, angefangen bei dem mächtigsten von ihnen: den USA.

Einen Ausweg aus ihrer unerträglichen Lage gibt es für die arbeitende Bevölkerung nur dann, wenn sie sowohl die imperialistische Herrschaft in Frage stellt als auch die mit den Imperialisten verbundenen lokalen Machthaber stürzt.

Die Massen im Irak sind in der Region nicht allein mit ihren Kämpfen und Hoffnungen. Auch im Libanon und jetzt sogar im Iran gehen derzeit Hunderttausende für ein würdiges Leben auf die Straße. Ebenso wie in zahlreichen Ländern auf dem südamerikanischen Kontinent.
Durch diese Kämpfe kann die arbeitende Klasse Mut und Energie schöpfen. Sie kann anfangen, sich zu organisieren und vor allem ein Bewusstsein ihrer eignen Interessen und ihrer Perspektiven entwickeln.

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